5. Juni 2014

2014: After the Summer of Snowden

Warum wir eine politische Agenda gegen die Totalüberwachung brauchen

Zum ersten Jahrestag der Snowden-Enthüllungen am 5. Juni 2014 auf rosalux.de: Was kommt nach dem „Summer of Snowden“: Welche Enthüllungen folgen noch? Was folgt aus den Enthüllungen?

Während ein Teil der Öffentlichkeit noch Schwierigkeiten hat, den Charakter der Snowden-Enthüllungen seit dem 5. Juni 2013 zu fassen, ist der andere Teil schon wieder zur Tagesordnung übergegangen. Die Fassungslosigkeit, welche die immer neuen Enthüllungen aus der dunklen Welt der Geheimdienste immer wieder auslösen – zumindest beim interessierten Publikum – entspricht in etwa einer allgemeinen Lähmung bei der Frage, was denn nun die Konsequenzen aus all dem sein sollen: Die Folgen für eine/n selbst, die Folgen für die Gesellschaft.

So fand ein vorläufiger Höhepunkt der Snowden-Dokumente, die Enthüllungen im SPIEGEL vom 30.12.2013[1][2], kaum noch Resonanz über die näher interessierten Kreise hinweg: Dabei wurde gezeigt, dass die NSA bei Bedarf tatsächlich in der Lage ist, mittels der anlasslosen, globalen Schleppnetz-Datensammlung (auch „Totalüberwachung“ genannt) und zusätzlich mittels maßgeschneiderter Operationen („Tailored Access Operations“, kurz TAO), nahezu jedes Gerät zu kontrollieren, nahezu jede Kommunikation abzufangen. Zugleich kann man nun wirklich sagen, „die Geheimdienste schneiden alles und weltweit mit“. Damit ist die gesamte Infrastruktur der digitalen Gesellschaft kompromittiert.



Bei der Feststellung, dass quasi das Internet kaputt ist, geht es um weiter gehende Dimensionen als jene der persönlichen Kränkung. Die Souveränität des Staates ist in Frage gestellt: Aus linker und emanzipatorischer Sicht ist die allererste Sorge allerdings die Frage, wie angesichts all dessen den persönlichen Freiheitsrechten noch Geltung verschafft werden kann, und weniger die Sorge um die Sicherheit und Souveränität von Unternehmen und Staaten. Um letzteres sorgen sich dafür die Eliten und (neo-)konservative Spektren umso mehr – und solche Sorge hat allerdings in der Regel auch Folgen. Unabhängig davon, bei welchen Überwachungsprogrammen der deutsche Staat wie eng mit den USA und anderen Alliierten zusammengearbeitet oder ihnen die Daten sogar zugearbeitet hat (wie u.a. das britische GCHQ), die Überwachung durch die „Five Eyes“ als Ganzes ist auch aus Sicht der Bundesregierung und anderer Verbündeter der USA und Großbritanniens inzwischen aus dem Ruder gelaufen: Diese Regierungen haben offenbar keinen Einfluss mehr auf Umfang und Art der Überwachung, und sie sehen sich getäuscht, da trotz Kooperation mehr und umfassender bespitzelt wird, als ihnen bekannt war.Nicht zuletzt ist es Aufgabe jeder kapitalistischen Demokratie die nationale Wirtschaft wettbewerbsfähig zu erhalten, auch durch Schutz vor Spionage. Das politische Projekt bzw. die politische Antwort von konservativer Seite ist in den letzten Wochen deutlich geworden: Nicht nur das Internet als universelle Infrastruktur der digitalen Gesellschaft, sondern auch deren materielle Basis – Hardware- (Geräte) und Software-Plattformen (Betriebssysteme und bestimmte Anwendungen) – soll offenbar in einen nationalstaatlich definierten Rahmen und in entsprechende Kontrolle überführt werden. Offen ist bei diesen Projekten teilweise noch, was davon strikt nationalstaatlich, und was davon auf europäischer Ebene gemeinsam vorangetrieben werden kann bzw. soll.

Weitere Hinweise der letzten Monate haben den übergeordneten Sinn der globalen Datensammlungen wieder in den Blick gerückt und gezeigt, dass es bei den globalen Überwachungsprogrammen nicht um die Gewinnung von Information um ihrer selbst willen geht. Ziel all dessen ist schließlich deren Verwendung bei der Aufstandsbekämpfung und im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Bei der globalen Überwachung geht es also nicht nur um das Ausspähen und Überwachen von Menschen, um Flug- und Einreiseverbote etc., sondern auch um Verschleppung und Verschwinden lassen und nicht zuletzt auch um außergerichtliche Hinrichtungen und Targeted Killings – die Tötung von „Terrorverdächtigen“ durch Spezialkommandos und Drohnenschläge. Die Datensammlungen der Geheimdienste sind schließlich die informationsmäßige Basis der Ziellisten („capture/kill lists“) von U.S.-Militärs und Geheimdiensten.

Wir wissen weiterhin nicht genau, an welchen Stellen und in wieweit die bundesdeutsche Regierung und andere Alliierte der USA in das globale Überwachungsprogramm involviert sind. Dass die Bundesregierung deutlich mehr wusste und stärker beteiligt ist, als zugegeben, liegt auf der Hand und wurde letztens durch neue Hinweise erhärtet (u.a. durch JournalistInnen des Projekts „Geheimer Krieg“ vom Norddeutschen Rundfunk und Süddeutscher Zeitung, sowie durch Aussagen von Edward Snowden vor dem Innen-Ausschuss des EP vom März 2014). Währenddessen ist die NSU-Affäre und die Rolle deutscher Sicherheitsbehörden darin längst nicht zu Ende aufgearbeitet.

Der Kampf gegen Überwachung und Kontrolle durch den Staat ist historisch ein liberales und linksemanzipatorisches Kernthema; doch gerade aus diesen gesellschaftlichen Spektren vernimmt man noch zu wenig politische Antworten, die über ein paar allfällige Forderungen oder Ermahnungen für den persönlichen Gebrauch hinaus gehen. Warum hat nicht einmal die Piratenpartei den „Summer of Snowden“ nutzen können, um ein politisches Projekt oder ein Programm anzubieten, das überzeugend die Frage nach den politischen Konsequenzen aus den Snowden-Enthüllungen beantworten könnte? Für alle aber stellt sich die Frage: „Wie überwinden wir die politische Lähmung?“

BürgerInnenrechtsengagierte und netzpolitische Aktive schreiben sich die Finger wund, um zu analysieren, warum bislang so wenig politische Konsequenzen folgten, warum so wenig gesellschaftliche Bewegung spürbar wird. Viel Richtiges wird gesagt, viel Hilflosigkeit ist spürbar. Was wir bereits haben: Ratlosigkeit, gut gemeinte Appelle, die Suche nach einer alternativen Erzählung, welche die Menschen doch noch wachrütteln könnte. Und – once again – das Herbeischreiben einer neuen sozialen Bewegung, die weiter auf sich warten lässt: Eine netzpolitische Protestbewegung, oder gar eine neue Bürgerrechtsbewegung; im Netz aktiv, wie auch auf der Straße, und zwar weltweit.
  • Ja, wir brauchen wirksame Aufklärung über den weitreichenden Gehalt der Snowden-Enthüllungen. Die Bedeutung all dessen muss immer wieder neu erklärt und verständlich gemacht werden.
  • Ja, wir brauchen auch die „digitale Selbstverteidigung“, sowie bessere Tools, User Interfaces und Installer-Pakete dafür, und noch mehr Bildungs- und Kampagnenarbeit, um Menschen zum Gebrauch dieser Dinge zu ermächtigen und zu motivieren. Wir brauchen Organisationen und Geld, um all das zu ermöglichen.
  • Ja, wir brauchen öffentlichen Druck für weitere Aufklärung zur massenhaften, anlasslosen Überwachung, vor Ort wie auch global.
  • Ja, wir brauchen politischen Forderungen und Vorschläge für die richtigen politischen Konsequenzen, und das ist mehr als Whistleblowerschutz und Asyl für Snowden, es geht um eine wirkliche Kontrolle der Geheimdienste und um effektive Beschränkung ihrer Befugnisse, bis hin zur Frage ihrer Auflösung.
Aber wie kommen wir in Bewegung? Neben dem Genannten brauchen wir auch eine politische Agenda, die es den verschiedenen emanzipatorischen Kräften ermöglicht, zusammen zu wirken. Das fängt an bei der Verständigung darüber, wie die weltweite Überwachung zu bewerten ist, und geht bis zur Frage, was die gemeinsamen Forderungen sind. Ohne gemeinsamen Diskurs und ohne gemeinsame Erzählung gibt es auch keine soziale Bewegung, weder im Netz noch auf der Straße.

Worüber wir reden müssen, um zu einer politischen Agenda gegen die Totalüberwachung zu kommen:
  • Gibt es einen Journalismus, der die Kraft hat, die Zusammenhänge weiter aufzudecken? Welche anderen, aktivistischen Kräfte können dies erreichen oder befördern?
  • Gibt es eine Öffentlichkeit, die den Willen aufbringt, der Bundesregierung und den Bundesbehörden ihre düsteren Geheimnisse abzuringen?
  • Gibt es GesetzgeberInnen, die ihren Auftrag der Aufsicht über die Bundesregierung, durchsetzen werden? Gibt es Geheimverträge, darf es sie geben?
  • Gibt es eine wirkliche Verantwortlichkeit demokratischer Organe für Geheimdienste und deren Handeln, oder wie kann diese verwirklicht werden, wenn offenbar keine wirksame Aufsicht möglich ist?
  • Welche Schritte gehen emanzipatorische und linke Organisationen, Initiativen und Parteien in Richtung einer glaubwürdigen politischen Antwort?
  • Welche Agenda erwächst aus all diesem für den politischen Aktivismus, in Bezug auf eigenes Verhalten, in Bezug auf Taktik und Kampagnen, in Bezug auf Strategien und Programmatik, Forderungen?
  • Was braucht es konkret, um eine digitale Selbstverteidigung für alle BürgerInnen zu ermöglichen, jenseits von Appellen an das schlechte Gewissen?
  • Was kommt nach der digitalen Selbstverteidigung? Welche Formen von offensiven Widerstand sind machbar? Welche gemeinsamen Formen von Widerstand sind wünschenswert, welche individuellen Formen sind noch tolerabel für eine gemeinsame Bewegung?
Die unbeantwortete Frage, wie tief Deutschland selbst in die Totalüberwachung, in weitere Verfehlungen und Verbrechen der Geheimdienste und schließlich auch in den weltweiten Drohnenkrieg sowie in den „globalen Krieg gegen den Terror“ verstrickt ist, mag vielleicht sogar eines der zentralen Momente sein, um hierzulande die politische Ratlosigkeit und Lähmung angesichts der Snowden-Enthüllungen zu erklären. Vielleicht wird es weder eine wirksame Netzbewegung noch eine neue Bürgerrechtsbewegung geben können, solange diese nicht auch sicherheitspolitisch offensiv wird und sich diesen Fragen stellt. Gibt es relevante politische Akteure, die sich nachdrücklich gegen die Angst-Diskurse stellen und auch die folgende Frage auf die politische Agenda setzen können und wollen: „Wollt Ihr, dass all dies in Eurem Namen und für Eure Sicherheit vor terroristischer Bedrohung geschieht?“

All diese Fragen hat keine politische Strömung in wirksamer Art für sich allein beantworten können. Mein persönlicher Vorschlag: Ein Jahr nach dem „Summer of Snowden“ sollten wir dem gemeinsam nachgehen und eine übergreifende politische Agenda gegen den Überwachungs- und Sicherheitsstaat entwickeln.
Wir brauchen ein Bündnis, dass die Verbindung von individueller und kollektiver widerständiger Praxis und wirksamer politischer Strategie ermöglicht und einen Diskursraum schafft, in den die umrissenen politischen Fragen solidarisch debattiert werden können. Wir haben schon ein paar politische Organisationen, die den Anfang machen können und sich zusammen mit vielen, weiteren AktivistInnen an einen Tisch setzen sollten: Vor allem der Chaos Computer Club, die Digitale Gesellschaft, das Freiheit statt Angst-Bündnis (und gerne auch weitere), und nicht zuletzt sind hier politische Stiftungen wie die Rosa-Luxemburg-Stiftung gefragt. Und, wollen wir?

Norbert Schepers, Leiter des Bremer Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Dieser Artikel erscheint heute auf www.rosalux.de und ist eine ergänzte Fassung eines Textes vom Januar 2014, den ich im April hier in meinem Blog gepostet habe.
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[1] DER SPIEGEL, December 29, 2013: The NSA Uses Powerful Toolbox in Effort to Spy on Global Networks.
[2] Wikipedia: NSA ANT catalog

Der Artikel After the Summer of Snowden als PDF. 

Update:
Natürlich haben auch einige andere Menschen etwas zu der Frage geschrieben, was aus den Snowden-Enthüllungen folgen sollte und warum tatsächlich so wenig passiert. Markus Beckedahl hat eine entsprechende Zusammenstellung von Beiträgen zum ersten Snowden-Jahrestag gemacht: Lesenswerte Beiträge zum Jahrestag von Edward Snowden.